NORMVARIANTEN!

NORM: Übliche den Erwartungen entsprechende Beschaffenheit Größe und Qualität, (Definition Duden).


Tja! Und dann gibt's da mich! Irgendwie entspreche ich wohl nicht so wirklich einer Norm! Nicht den Empfehlungen! Nicht denen einer genormten Gesellschaft. Dabei sind Normen doch Wissen - und ich frage mich; warum das Wissen in diesem Bereich so wenig dazulernt!
Also ich komme mit gesellschaftlichen und moralischen Normen weitestgehend ganz gut klar. Mit den mathematischen und den physikalischen Normen hingegen eher weniger
- aber dafür habe ich ja meinen Mann  

Was Interoperabilitätsnormen sind müsste ich glatt googeln - da hab ich keinen blassen Schimmer.
Meine Güte – es gibt Normen an jeder Ecke! Sie sind Ü-BER-ALL! Oder mit den Worten einer Viertklässlerin: “Alter Falter!!! – Sind das viele!”
Aber ich glaube ich passe in keine! Zumindest bei weitem nicht in all ihre Facetten, die die Gesellschaft sich für mich ausgedacht hat.
Und manchmal - ja manchmal da grübel ich - über mich; über meinen Körper und mein ganz persönliches zu Hause.
Vielleicht an einem Tag, wie dem Welt-MS-Tag ein wenig mehr als sonst; oder in der Vorbereitung darauf!

Ich sehe meinen Körper und fühle ihn. Doch vor allem bewerte ich ihn. Zwänge ihn in Normen oder versuche es. So wie es die Umwelt tut! So muss ich es doch auch machen.

Stelle Erwartungen an meinen Körper - meinen Geist/meine Konzentration und schreibe ihm gedanklich ein Handlungs- und Funktionsprotokoll. Erwarte, dass er nur müde ist, wenn es mir grad passt! Aber bitte auch nur DANN wach ist, wenn es mir gerade passt!
- Und verliere ihn dabei aus den Augen. Verliere die Leistungen aus den Augen, die er hinter sich hat an dem ein oder anderen Tag! Leistungen, die RICHTIGE Leistungen für ihn sind - viel mehr noch als für körperlich gesunde Menschen. Verliere das Bewusstsein, dass er oftmals für dieselben Handlungen den doppelten Weg zurücklegt! Er läuft mit s(m)einen Nerven ununterbrochen ZickZack, weil er ständig vor Gräben steht und Entzündungen und Narben ihm schon von weitem mit dem UMWEG-Schild entgegen wedeln. Und nach 21 Schüben sind da so allerhand Gräben! Wenn das körpereigene Navi mit den schnellsten Umgehungsstraßen dann noch nicht wieder aktualisiert und auf dem neuesten Stand ist; dann ist Chaos vorbestimmt!
Doch nicht nur DAS! - NEIN! Er hat dann auch noch MICH an der Backe, so dezent neben dem ganzen Stress, den er ja eh schon hat! Mich, die spontan erwartet, dass das Bein sich aber bitte trotz allem genauso schnell bewegt, wie früher OHNE Baustellen. Oder dass sich der Fuß ÜBERHAUPT bewegt, wenn der Arzt dagegen drückt und eine Reaktion will! Und ich lieg dann da auf der Liege und krieg Hörnchen, während ich innerliche Selbstgespräche mit meinem Fuß und den Nerven führe! "Hör auf mit dem Mist! Wenn ich automatisch laufe bewegst Du dich ja auch irgendwie! Pack jetzt endlich die Monoparese wieder ein!"... Da fängt es schon an - einfach nur bei mir! Aber es gibt ja nicht nur mich!
Da waren ja noch die gesellschaftlichen Normen.


Fangen wir mal mit der den Erwartungen entsprechenden Größe an: Durchschnitt! HEY! - Ein Anfang! Eigentlich ganz o.k.!
Das Gewicht?! PUH! Fragt nicht! Ich bewege mich je nach Arztbrief zwischen “LEICHT adipös” und “fettleibig” ( - an dieser Norm sollten die Berichteschreiber wirklich, wirklich mal feilen von der Wortwahl mal ganz abgesehen! Was bin ICH froh, dass sie sich wenigstens alle einig sind, dass ich "allseits orientiert" bin. Das fehlt mir noch!) Jedenfalls ist der Körperumfang ein NO GO! Das entspricht keinesfalls der gewünschten NORM des Körpers in unserer Gesellschaft! Und da sind wir am Beginn der Reise.
So fängt es irgendwann an. Irgendwann kommen sie, die Zweifel. Man zweifelt an sich - an seinen Fähigkeiten - an seinem Aussehen. Vielleicht gar nicht mal, weil man selbst darauf kommt. Eigentlich ist man ganz zufrieden wie man ist! Als Kleinkind, als Kindergartenkind und als Grundschulkind. Mit sich – mit seinem Körper, mit seinen Fähigkeiten!
So lange bis man "lernt" (was für ein unpassender Begriff in diesem Zusammenhang!), dass man irgendwie “falsch” ist. Erst mal schlichtweg NUR, weil andere nicht mir Dir zufrieden sind! Ein bisschen zu dick – ein bisschen zu dünn! Zu pickelig, zu-was-weiß-ich. Einfach weil es die Umwelt tut. Weil die Menschen es mit sich tun - oder aber, weil sie es mit DIR tun! Und immer und immer wieder wird von außen versucht in eine Norm gepresst zu werden - und wenn man da nicht reinpasst, dann ist man irgendwie falsch. Und das Schlimme ist, dass es so viele Normen gibt! Wir haben uns eigentlich doch mal wohl gefühlt wie wir waren.

Und es wird mir umso bewusster, wenn ich Kinder beobachte. Wenn das eigene Kind von der Schule berichtet, dass es die Aufgabe im Erzählkreis gab, zu erzählen, WER sie unbedingt gerne sein würden und warum. Und auf die Frage meinerseits, wer sie denn gerne sein würde die Antwort kommt: "Ich bin total gerne so wie ich bin! Und will eigentlich niemand anders sein. Das habe ich auch so gesagt."
(Mit der Ergänzung: "Mama!! Manche wollen Helene Fi***er sein! Nicht ernst jetzt!". Tja. Auf die Frage wen sie toll findet wäre ihr so einiges eingefallen. Aber jemand anders sein???)
Sie hat wohl ein stückweit das Thema verfehlt und war eine der Schnellsten – aber es macht mich auch stolz!
Aber: Wann kommen diese Zweifel?!?! und vor allem WARUM? Ich glaube nicht, dass man sie alleine prägt.
Und dann?! Dann hat man sich irgendwann vielleicht wieder gefunden nach Pubertät und Postpubertät und vielen, vielen Phasen! (Kennt Ihr, oder?!?! Ist ja nur ne Phase!...) Eigentlich fühlt man sich wieder ganz wohl oder hat zumindest aufgehört sich dauerhaft den Kopf zu machen und Vergleiche anzustellen welchen Normen man noch gerade nicht gerecht wird; bis auf den üblichen Kram zumindest.


DANN kommt so was wie die MS - oder eine andere beliebige Erkrankung. Da schwebt es wieder! Das Damoklesschwert der NORM!

Dabei ist man mit der Norm der Optik des Körpers doch so oder so noch beschäftigt! Und NOCH mehr Situationen sind plötzlich nicht mehr der Norm entsprechend! Die Geräte piepen an den falschen Stellen - oder aber sie piepen gar nicht mehr! Weil das Bein sich einfach nicht mehr bewegt. Hey! Das ist so nicht geplant! Der Bauplan war ein ganz anderer!!

Was soll der Mist?

In dem Alter ist man doch eigentlich komplett selbstständig! Eigentlich! Das wird auch erwartet mit 30. Klar! Ich habe das auch so erwartet! Nur war ich es plötzlich nicht mehr! Plötzlich saß ich in einem Körper, der das alles nicht mehr konnte! Der nicht mehr irgendwo hingelaufen ist, sondern der dafür eine Stütze brauchte. Er hatte einfach keine Chance mehr irgendeine Norm zu erfüllen! Nicht die der Umwelt - und meine schon gar nicht! Und es kamen immer mehr Normen hinzu, die nicht mehr passten. Doch die Erwartungen, dass da zwar eine Erkrankung ist, aber alles genau SO wie es war weiterlaufen MUSS! waren da. - Viel zu hoch gesetzt und häufig zu hoch sind sie sicher auch heute noch oft genug. Genaugenommen wechselte sich mein Körper dauerhaft ab mit nicht mehr der Norm entsprechenden Aktionen! Eigentlich muss er so gesehen über die vielen Jahre jegliche Norm irre gemacht haben*zwinker*. Passt - passt nicht - passt - passt nicht! Passt fast! undsoweiterundsofort..

Irgendwie steht man immer wieder - zumindest auf einem gefühlten Podest - mit zig Augen auf einen gerichtet und erklärt sich! Oder rechtfertig man sich?! Der Umwelt gegenüber, aber ebenso sich selbst! JA! Man rechtfertigt seine “Mängel” – oder versucht sie sich immer wieder zu erklären.
Da kommt die Frage nach der Qualität. Mit der Antwort: "PUH! Scherz jetzt, oder?!?!"
Aber HEY! Ganz ruhig. Es gibt ja noch mehr! Wie sieht`s denn z.B. aus mit der Beschaffenheit?! "Öhmmmm...jo! Das war auch schon mal glatter und OHNE die Dellen von den Spritzen aka Unterhautfettgewebeschwund war auch die Oberflächenbeschaffenheit eine deutlich bessere. (Memo: Frage an die Spritzenschwester: wenn ich jetzt immer gezielt NEBEN eine Delle spritze und mein Unterhautfettgewebe gezielt kille über die nächsten Jahre - wird der Bauch dann von alleine flach?!)
Von den Schwangerschaften mal abgesehen. Neee. Nichts zu machen! Das wird nicht mehr mit normgerecht." Aber HEY! Eigentlich bin ich auf jeden Schwangerschaftsstreifen stolz, dass ich das Glück hatte solche Deko tragen zu dürfen! Nicht normgerecht ist DA ja gar nicht so schlimm. Normgerecht schön anzusehen nach gesellschaftlichen Normen mit flachem, erinnerungsfreiem straffem Bauch wäre da ja eigentlich viel schlimmer; denn dann wäre ich nicht Mami.

Foto: Nicole Keller

Foto: Nicole Keller

Also weiter: Nicht aufgeben! Wie steht es mit der Größe?? Passt! Wenn das nur auf die Höhe bezogen ist klappt das. Bin doch noch nicht geschrumpft, oder?! DOCH!! Bin ich! Die haben mich letztens `nen cm. kleiner gemessen als im Perso steht - das wars wohl mit dem Durchschnitt mit dem ich gerade noch geprotzt habe! Aber HEY! Ich könnte da noch gerade so durchflutschen. Und langsam werde ich trotzig und motze zurück! "Lieber klein und zackig als groß und dappig! Scheiß Norm Du!!"

Aber die anderen gesellschaftlichen Normen erfülle ich doch ein wenig, oder?! Manche vielleicht?! Also der Körper - für mich interessiert sich ja in der Situation erst mal niemand!?! Denn es geht ja meist nur um ihn! Eigentlich nicht fair dauerhaft so ignoriert zu werden! O.k. JA! Ich gebe zu: ohne ihn - meinen Körper - wär ich ein nichts! Aber OHNE mich.......Jahaaa....Schöön langsam drüber nachdenken!! Ohne MICH!! lieber Körper....das lässte Dir jetzt mal durch den Kopf gehen, was?!
Nur weil er die Normen nicht erfüllt tangiert MICH das ja nicht unbedingt! Ich bin doch nicht nur `ne Hülle! (Es sei denn ich hab Fatigue! Dann eigentlich schon! Dann häng ich nur noch rum und ich hasse es! ) Aber manchmal fühlt man sich wie eine behandelt. Schlichtweg weil es nur um den Körper geht! - Aber es geht fast nie um das was drin steckt! Kann der Körper noch laufen?! Wird der Arm noch bewegt?!Ist noch ein Gefühl im Bauch? Merkt die Hand überhaupt noch, ob was warm oder kalt ist - oder reagiert er gar nicht drauf, wenn es zu heiß ist und verpasst Dir dann direkt noch fette Brandblasen?! Oftmals ist es das, was man sieht - und das was betrachtet wird! Ist er groß und dünn und "hübsch" genug?! Und WENN schon mal nach innen geschaut wird - dann sucht man nach Läsionen (Vernarbungen) in Schädel, Halswirbelsäule und Brustwirbelsäule oder sonstigen Macken! Schwupp - und wieder spielt der Mensch ansich nicht wirklich eine Rolle!

JA! Alles was nicht der Norm entspricht fällt auf!

Der Mensch im Rollstuhl fällt auf! Aber NICHT weil er besonders empathisch ist!
Der, der besonders klein oder auffallend groß ist fällt auf; aber nicht weil er liebevoll und hilfsbereit und immer für andere da ist!
Der kleine Junge mit Down-Syndrom fällt auf! Nur leider nicht weil er genau der Mensch ist, der Dir im Leben fehlt um von Herzen geliebt zu werden und der Dir zeigt was im Leben wichtig ist. (Love you Nathan and hope to see you in germany this year!! Alofa to the family!)
Die Person mit dem Blindenstock zieht die Blicke auf sich! Nicht, weil er der beste Zuhörer und der sensibelste Mensch ist, den man kennenlernen kann.

Vielleicht muss man es umformulieren! Die Gesellschaft muss lernen den Menschen und ihrer Persönlichkeit eine Chance zu geben - und die Äußerlichkeiten in den Hintergrund stellen.
Es ist die Unerfahrenheit! Die Unsicherheit, wie mit dem anders sein - dem nicht normkonformen umzugehen ist! Und vielleicht auch die Unfähigkeit mehr zu sehen als "nur" DIE Dinge, die nicht der äußerlichen Norm entsprechen.

Und unterm Strich?? Die MS kommt und geht und ich steck im Körper drin - egal für welchen Weg ER sich entscheidet! Ich habe da nur bedingt Mitspracherecht! Ich bin ihm gegenüber zwar schon ziemlich großkotzig und selbstbewusst geworden! Aber das reicht nicht! Ich muss lernen ihn so zu nehmen wie er ist! Und vor allem muss ich lernen DAS zu sehen, was er alles tolles KANN! Nicht immer einfach! Keine Frage! Aber will man das nicht auch?! Möchte man nicht auch, dass nicht nur die Fehler gesehen werden, sondern eben auch die Fähigkeiten?! Und: WOW! Er kann so viel! Es sieht nur niemand - und ich habe mir fest vorgenommen genau DAS mehr zu sehen!
Unterm Strich ändert sich an mir doch gar nichts, oder?! Also bleibe ich nicht ein Stück weit ich?! Ja! Es gibt schlechte Zeiten mit schlechter Laune, Ängsten, Sorgen. Die hat jeder! Der eine mehr - der andere weniger. Der eine vielleicht gefühlter Weise berechtigter, der andere weniger. Von außen betrachtet. Aber wer will das bewerten?! Wer macht die Normen was man darf und was man nicht darf? Über welchen Verlust man trauern darf und über welchen nicht??
Ich hoffe, dass ich meinen Kindern die Sicht der Dinge mitgeben kann, die ich als wertvoll erachte! Und Kinder sind so wertfrei! Sie lassen ihre Gefühle noch zu und sehen ins Herz!
Irgendwann sprach ich mit meiner Tochter nach einem Besuch bei ihrer Freundin, wo ich mich mit der Mami verquatscht habe. Ich erklärte ihr, dass die Mami jetzt auch in mein Krankenhaus geht und alle hoffen, dass Ihr die Medikation auch hilft, da sie ja auch MS hat und daher das Laufen auch so sehr schlecht geworden ist über das letzte halbe Jahr. Sie verstand das gar nicht und meinte nur: "Echt jetzt?! Mami!! Sie läuft doch ganz normal!" Und es wurde mir wieder mal vor Augen geführt, wie normal es auch einfach ist, das wir verschieden sind! Aussehen, Fähigkeiten, Einschränkungen und und und...
Eigentlich sind wir doch alle nur

NORMVARIANTEN!

Nicole Keller,
MS seit 2005