Tagebuch

Hmmmm
— 9. Februar 2010 [Facebook Chronik]

Hallo, ich bin Björn und meine MS-Geschichte begann damals mit diesem unscheinbaren Beitrag auf Facebook.
Unscheinbar nur auf den ersten Blick, denn was dieser Post zusammengefasst hat, war die 2. Sehnerventzündung meines Lebens. Und die Besuche beim Augenarzt, Neurologen, Radiologen, mit der zurückbleibenden Ungewissheit.
In meiner Erinnerung stellt sich meine erste MS-Zeit immer recht locker dar, das Schlimmste, an was ich mich da erinnere, war die Lumbalpunktion mit der ersten und schlimmsten Migräne, die ich erleiden musste, im Anschluss.
Und wenn ich jetzt aus der Zeit erzähle, ist es auch nicht gelogen, oder absichtlich beschönigt, es ist nur nicht mehr ganz authentisch, da ich jetzt nur noch den Blick von außen habe und die menschliche Psyche Erinnerungen verändert oder auch gerne mal ausselektiert.
Zum Glück gibt es Tagebücher. Zu meinem Unglück gehöre ich nicht dem tagebuchschreibenden Teil der Gesellschaft an. Und so verbleibt es bei meinen Erinnerungen an die damalige Zeit.
Dachte ich zumindest. Denn statt in alten Tagebüchern zu blättern, bin ich in meinem Mail-Archiv gelandet und über ganz vergessene Zeilen gestolpert. 
Vor der Diagnose war alles anders, ich würde nicht sagen, dass ich glücklich war, oder unglücklich, es war einfach anders. Damals habe ich auch einige Mail-Freundschaften gepflegt. Aus der letzten auslaufenden Freundschaft entstammen die Mails in diesem Blog-Eintrag.
Ich habe nie Antworten erhalten.

Moin Moin aus Flensburg

Hallo [...],

heut meld ich mich mal wieder, nach auch schon wieder fast 3 Monaten.
[...] Wie geht es Ihnen, sind Sie gut ins neue Jahr gekommen? Ich
beneide Sie auf jedenfall um das warme Wetter, wir haben hier jetzt seid
fast 3 Monaten Schnee und ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir
jemals so viel hatten. Inzwischen mag ich keinen Schnee mehr sehen. Ich
mag keine Arbeit mehr sehen. Ich mag irgendwie gar nichts so richtig zur
Zeit.
Woran das genau liegen mag, vermag ich nicht zu sagen. Eventuell hat es
auch damit zu tun, dass mich meine gesundheitliche Ungewissheit derzeit
etwas belastet. Ich hab irgendwelche Entzuendungen im Kopf aber die
genaue Diagnose kann erst erfolgen, sobald mein Nervenwasser untersucht
wurde. Der naechste freie Termin ist in knapp zwei Wochen. Solange nagt
die Ungewissheit an mir. Ich hoffe ja, dass vielleicht doch allles in
Ordnung ist, aber die Symptome deuten alle auf multiple Sklerose hin.
Also 120 Jahre alt werd ich dann wohl leider doch nicht, wenn es so sein
sollte ....
Und ich habe derzeit das Gefuehl, dass mir mein Leben entgleitet. Ich
muss versuchen es wieder mehr in Griff zu kriegen, aber trotzdem
nebenbei etwas lockerer zu werden. Das ist vielleicht ein guter Vorsatz
fuers neue Jahr das zu schaffen. :)
[...]
— Mail vom 6. März 2010

In meiner Erinnerung hat es mit der Nervenwasser-Untersuchung gar nicht so lange gedauert. Ich weiß noch, wie mir der Neurologe das Ergebnis mitgeteilt hat und mir dann einen Monat Bedenkzeit eingeräumt hat, ob ich mir jede Woche eine Spritze oder drei Spritzen geben möchte.
Ich mochte es natürlich gar nicht, schon als Kind waren es die reinsten Krawall-Marathons, wenn mir ein Arzt eine Spritze geben sollte. Das hat sich zum Glück irgendwann gelegt, aber jetzt sollte ich es sogar selbst machen? Natürlich hab ich mich für die Variante mit einer Spritze entschieden.
Eine Spritze zu viel! Mir wurde es zweimal gezeigt, beim dritten Mal habe ich es dann unter Aufsicht selber hin bekommen, ab der vierten war ich auf mich allein gestellt.
Eine heroische Erinnerung ist es zwar nicht, die jetzt folgt, aber zumindest war ich felsenfest der Meinung, dass ich es zumindest im ersten Jahr ganz gut hin bekommen habe.
So war es aber nicht. 2015 habe ich mich in psychotherapeutische Behandlung begeben und wir sind einer Angstkurve auf die Spur gekommen, die sich massiv auf meine Lebensqualität und Alltag auswirkt.
Diese Angskurve habe ich bereits 5 Jahre vorher in einer Mail beschrieben.

Lang ists her....

Hallo Frau [...], [...], [...] :)

Wie geht es Ihnen. Es ist jetzt ziemlich genau ein Jahr her, dass ich
das letzte mal von Ihnen gehoert habe. Sind sie immer noch auf der
Rancho im schoenen Mexiko? Ich habe zur Zeit Urlaub und hier ist mal
wieder son richtiges norddeutsches Schietwetter wie man so schoen sagt.
Da packt einen doch das Fernweh. Na wenigstens ist es nachts kühl genug,
dass man auch immer gut und fest schlafen kann.
Wobei das heute Nacht ruhig etwas waemer sein koennte. Ich habe ja in
meiner letzten Mail im Maerz von den Entzuendungen im Kopf gesprochen.
Die Diagnose hat sich leider bewahrheitet und die Untersuchung des
Nervenwassers hat ergeben, dass ich an multipler Sklerose erkrankt bin.
Seit Ende April bin ich jetzt dabei eine lebenslange Therapie mit
Spritzen zu machen. Ich darf mir jetzt jede Woche eine Spritze selber
verpassen. Lebe eigentlch nur noch von SPritze zu Spritze. Immer wenn
die Spritze drin ist, fuel ich mich seelisch wieder besser, aber 2 Tage
spaeter zaehl ich bereits wieder die Tage zur naechsten Spritze. Die
Spritzen selbst tun gar nicht weh, aber es ist diese ueberwindung, sich
selber eine Nadel in den Muskel zu stecken. Paar Stunden spaeter setzen
dann die Nebenwirkungen ein, auch nicht schoen ... Schuettelfrost,
erhoehte Temperatur, Kopfschmerzen .... aber das geht ja vorbei, die
Psyche faengt dann die Woche spaeter wieder an zu zittern, wenn ich die
Nadel in der Hand halte.
[...]
— Mail vom 29. Juli 2010

Wir haben und fast zwei Jahre Mails geschrieben, gemeinsam geträumt und über das Leben ausgetauscht.

Laecheln

Hallo [...] (meine Bruderine),
ich hab mein Laecheln verloren :(
LG Bjoern
— Mail vom 30. September 2010

Fast fünf Jahre hat es noch gedauert, bis ich mir hab helfen lassen.
Und danach wurde wieder alles anders.

Björn